Jede Frau zu jeder Zeit vor Gewalt schützen
Vor fünf Jahren trat in Deutschland die Istanbul-Konvention in Kraft. Erst unter der Ampel-Koalition soll der Vertrag nun in vollem Umfang umgesetzt werden / Von Bascha Mika
Es ist mehr als ein am ...
Jede Frau zu jeder Zeit vor Gewalt schützen
FR vom 31.01.2023
Vor fünf Jahren trat in Deutschland die Istanbul-Konvention in Kraft. Erst unter der Ampel-Koalition soll der Vertrag nun in vollem Umfang umgesetzt werden / Von Bascha Mika
Es ist mehr als ein ambitioniertes Projekt, das der Europarat 2011 auf den Weg bringt. Es ist ein Vertrag von historischer Dimension. Damals legte die internationale Organisation das „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ vor – kurz: die Istanbul-Konvention, benannt nach der Stadt, in der sie erstmals unterzeichnet wurde. Ein völkerrechtliches Abkommen, das Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung definiert.
Deutschland war an der Ausarbeitung des Vertrags beteiligt und gehörte zu den 13 der damals 47 Mitgliedsstaaten des Europarats, die das Abkommen bereits 2011 mit ihrer Unterschrift besiegelten. Doch es dauerte weitere sechs Jahre, bis die Istanbul-Konvention von deutscher Seite ratifiziert wurde und erst 2018 trat sie dann in Kraft. An diesem Mittwoch, dem 1. Februar 2023, besteht die Konvention hierzulande fünf Jahre.
In Europa ist Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ein weit verbreitetes Verbrechen. Die Statistik des Schreckens nur bezogen auf die EU-Länder: Durchschnittlich ist jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperlichen oder sexuellen Angriffen ausgesetzt, so die EU-Kommission. Jede zwanzigste wird vergewaltigt. Auch Jungen und Männer können zum Opfer werden. Aber ganz überwiegend ist die Gewalt gegen Mädchen und Frauen gerichtet. Bei Vergewaltigungen sind die Opfer zu 90 Prozent weiblich, bei sexuellen Übergriffen zu 80 Prozent. Allein in Deutschland wird jeden Tag eine Frau von ihrem Partner mit dem Tode bedroht; jeden dritten Tag macht ein Mann seine Drohung wahr.
Was hat die Istanbul-Konvention bisher erreicht? Ein großer Erfolg ist, dass in vielen Vertragsstaaten die juristische Definition von Vergewaltigung geändert wurde. Denn in den meisten europäischen Ländern gilt Sex ohne Zustimmung noch immer nicht als Vergewaltigung, wenn er ohne Gewalt oder Drohungen geschieht; dann wird die Tat nur als sexuelle Nötigung angesehen und der Täter kommt gut davon.
Als Deutschland die Ratifizierung des Abkommens vorbereitete, wurde auch hier das Sexualstrafrecht verschärft. 2016 wurde der Grundsatz „Nein heißt Nein“ ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Doch das ist Frauenverbänden und Aktivistinnen zu wenig. Sie fordern: „Nur Ja heißt Ja.“
Die Istanbul-Konvention liest sich wie ein Handbuch zu einer Gesellschaft ohne Gewalt gegen Frauen. Sie ist in Europa das wichtigste Instrument, um der alltäglichen geschlechtsspezifischen Brutalität entgegenzuwirken, zu der auch Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und sogenannte Verbrechen im Namen der Ehre zählen. „Die Mitgliedsstaaten des Europarats und die anderen Unterzeichner dieses Übereinkommens“ sind bestrebt, „ein Europa zu schaffen, das frei von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist“, heißt es in der Präambel.
Dennoch gibt es eine Reihe EU-Staaten, die den Vertrag unterzeichnet, aber nicht in nationales Recht umgesetzt haben. Das betrifft Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Lettland, Litauen und die Slowakei. Die Diskussionen in den sechs Verweigererländern werden teils polemisch, teils sexistisch und patriarchal, teils mit absurden Argumenten geführt. Ebenso in Polen, das die Konvention 2015 zwar ratifizierte, aber seit längerem droht, sie wieder zu kündigen – auch befeuert durch den Austritt der Türkei vor zwei Jahren (siehe Artikel auf Seite 4). Aber noch immer sind es 44 Länder, die sich per Unterschrift zu dem völkerrechtlich bindenden Abkommen bekennen, 38 davon haben es ratifiziert. Dazu gehörten seit vergangenem Jahr auch Großbritannien, Moldawien und die Ukraine.
Um den Widerstand der osteuropäischen Staaten gegen die Istanbul-Konvention zu umgehen, will die EU-Kommission eine eigene Richtlinie zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt vorlegen. Das kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Internationalen Frauentag 2022 an. Doch so wie bislang angedacht, ist die Richtlinie nur eine Krücke. Weder soll darin Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung definiert werden, noch geht es um Prävention. Beides Punkte, mit denen die Konvention im Vergleich zu anderen Verträgen dieser Art absolut hervorsticht.
Zudem ist die Istanbul-Konvention vorbildlich, weil sie Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt auf allen Ebenen bekämpfen will und dieses Ziel umfassend angeht – politisch, strukturell, kulturell. „Gewalt gegen Frauen ist der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse“, stellt der Vertragstext fest. Mit anderen Worten: Die Wurzeln der Gewalt sind in den patriarchalen Strukturen zu suchen.
Deshalb fußt das Abkommen auf vier Säulen: Es setzt nicht nur auf rechtliche Standards und Strafverfolgung, sondern auch auf Schutz und Prävention. Prävention heißt hier vor allem Bildung und Regelungen, um Rollenbilder zu verändern. All diese Bereiche müssen ineinandergreifen, damit die Sache funktioniert. Auch die Zivilgesellschaft soll eingebunden werden und alles Tun muss den Praxistest bestehen. Darüber hinaus legt der Vertrag fest, dass ein Expertengremium regelmäßig kontrolliert, inwieweit die Beitrittsstaaten die Vertragsvorgaben erfüllen.
Für Deutschland hat die Expertenkommission, genannt Grevio, im Herbst 2022 ihren Bericht vorgelegt – und gravierende Mängel festgestellt. Vor allem fordert Grevio eine Stelle, die die Umsetzung der Konvention koordiniert und dafür sorgt, dass Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Frauen vor Gewalt zu schützen, ist eine Querschnittsaufgabe, die die gesamte Gesellschaft betrifft, jedes Alter, alle Lebensbereiche, vom Kindergarten bis zum Altersheim. Doch diese Erkenntnis ist auch hierzulande längst noch nicht in die Praxis eingeflossen, wie auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus einräumt (siehe Interview).
„In Deutschland gibt es viele tolle Leuchtturmprojekte, aber die Versorgung und der Schutz von Frauen ist nicht flächendeckend und nicht nachhaltig finanziert“, kritisiert Anja Nordmann, Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrats. Der Frauenrat ist Teil des „Bündnisses Istanbul-Konvention“, in dem sich Frauenrechtsorganisationen, Verbände und Fachleute gegen geschlechtsspezifische Gewalt zusammengeschlossen haben.
Anja Nordmann: „Es ist ein Flickenteppich. Die Unterversorgung betrifft vor allem den ländlichen Raum und bestimmte Betroffenengruppen – wie Migrantinnen, geflüchtete Frauen oder Frauen mit Behinderungen.“ Auch wenn es um das Sorgerecht geht, sieht das Bündnis dringenden Handlungsbedarf. Noch immer werde der Schutz von Frauen ausgehebelt, weil selbst akut gewalttätige Väter in der Regel sofort den Umgang mit ihren Kindern erstreiten könnten. „Dadurch geraten Mütter und Kinder in Gefahr. Auch wird oft nicht berücksichtigt, dass Gewalt gegen die Mutter auch das Wohl der Kinder gefährdet. Hier geht es um traumatisierende Erfahrungen.“
In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampel-Regierung versprochen, dass sie die Istanbul-Konvention in vollem Umfang umsetzen will. Die Vorbehalte, die die Vorgängerregierung beim Schutz von Migrantinnen und geflüchteten Frauen geltend gemacht hatte, wurden bereits aufgehoben. Ab Mittwoch, dem 1. Februar 2023, gilt das Abkommen in Deutschland uneingeschränkt. Und das Ziel: jede Frau zu jeder Zeit vor Gewalt schützen!
Quellenangabe: FR vom 31.01.2023